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Die Schnupperstunde

Wer bin ich und wer bist du?

Pünktlich standen Mutter und Tochter zur Schnupperstunde vor der Tür.  Wie es sich wohl anfühlt, wenn man das Haus einer Familie betritt, und man selbst sein eigenes verlassen musste? Wie es sich anfühlt, zu einer Familie zu kommen, die zusammen leben darf, während der Vater nicht ausreisen durfte? Ich schlucke und begrüße meine Gäste.

 

In der ersten Stunde gilt es immer, sich gegenseitig kennenzulernen. Die Schüler befinden sich in einer ihnen fremden Umgebung mit einer fremden Person - und in diesem Fall wird auch noch in einer fremden Sprache unterrichtet. Da gilt es erst einmal, sich zu orientieren. Als Schüler muss man ja erst einmal herausfinden, mit wem man es hier zu tun hat. Was verlangt diese Person von mir? Ist sie mir sympathisch? Mag ich mich mich auf sie einlassen? O. ist ein offenes Wesen, und es fällt mir leicht, mit ihr Kontakt aufzubauen. 

 

Als Lehrerin bin ich auf mehreren Ebenen gleichzeitig unterwegs: so etwa gilt es herauszufinden, was die Schülerin schon an Vorerfahrungen mitbringt. O. hatte bis zum Kriegsbeginn in der Ukraine etwa 1,5 Jahre Klavier gelernt - das heißt sie konnte Noten lesen und beidhändig spielen. Aber kann sie auch den Baßschlüssel lesen? Wie taktsicher ist sie? Kann sie nach Gehör spielen? 

Zum anderen versucht man als Lehrerin, sich an das optimale Anforderungsniveau heranzutasten. Wie schnell kann man Dinge erklären? Wie gut setzt die Schülerin Verbesserungsvorschläge um? Wie reagiert sie auf diese? 

 

O. fand sich aufgrund ihrer Lernerfahrungen am Klavier recht schnell auf der Harfe zurecht, konnte „Alle meine Entchen“ spielen. (Ist diese Melodie überhaupt bekannt in der Ukraine?) Sie konnte auch leichte Fingerübungen im Violinschlüssel sofort vom Blatt spielen. Die erste große kulturelle Hürde jedoch: sie hatte die lateinischen Bezeichnungen für Noten gelernt, also statt C-D-E-F-G-A-H-C, wie es im deutschen Sprachraum üblich ist, sagte sie Do-Re-Mi-Fa-Sol-La-Si-Do. Glücklicherweise lernt man als Harfenistin beide Systeme, doch ich muss zugeben, dass ich deutlich langsamer unterwegs bin als in meinen gewohnten Denkmustern. So gibt es gleich was für mich zu lernen!

 

Nebenher versucht man rauszufinden, welche Charaktereigenschaften das Kind mitbringt. Schüchtern, extrovertiert? Was mag es gern? Wie kann ich seine Aufmerksamkeit bekommen und halten? Welche Art des Lernens fällt ihm besonders leicht? 

In diesem speziellen Fall versuchte ich noch, die Sprachkenntnisse einzuordnen. Wie viel verstand O. von dem, was ich sagte?  

Vieles musste mit Zeigen ablaufen, denn selbstverständlich war O. bisher noch nie über das harfentypische Vokabular gestolpert. Bei der Einübung der korrekten Haltung ist Zeigen aber sowieso der Königsweg. Die Beschränkung in der sprachlichen Verständigung zwang mich ansonsten, meine Botschaften auf das Minimum zu reduzieren und mich möglichst wenig wiederholen zu müssen. Und wenn wir gar nicht weiter kamen, konnte die Mutter von O. mittels Google-Translator helfen. 

Man merkte, dass O. Musikunterricht gewohnt war. Auf Korrekturen reagierte sie sofort, bei Fehlern - die sie selbst merkte - wiederholte sie selbstständig die ganze Passage. Sie war fröhlich und aufgeschlossen, jedoch nach einer halben Stunde sehr traurig, dass es schon vorbei war. Immer ein gutes Zeichen! 

 

Musikunterricht: Wozu?

Ihre Mutter erklärte mir daraufhin, dass in der Ukraine ein Instrument lernen bedeutete, dass man pro Woche 2 Stunden am Instrument, 2 Stunden Theorie, und 2 Stunden Ensemblespiel erhielt. Was natürlich in vielen traurigen Fällen als reiner Drill in einem fremdbestimmten Leben endet, ist prinzipiell für das Erlernen eines Instrumentes (und allem anderen) sehr von Vorteil, wenn man früh erlernt, dass Wiederholung und tägliches Auseinandersetzen mit den jeweiligen Herausforderungen sich lohnt. Ich selbst bin in der Doppelrolle Lehrerin - Mutter durchaus bekannt mit den Problemen des täglichen Übens. Ich mache mir derzeit sehr viele Gedanken dazu, ab welchem Alter oder ob man das generell einfordern sollte. Läuft man nicht Gefahr, dem Kind den Spaß am Instrument zu nehmen? Auf der anderen Seite: welchen Zweck hat es, wenn das Kind nur ein Mal pro Woche im Unterricht das Instrument spielt? Wo will man überhaupt hin mit der musikalischen (Früh-)Erziehung? Soll es ein sinnvoller Zeitvertreib sein? Soll ein zukünftiger Berufsmusiker geformt werden? Sollen Talente entdeckt und nicht „verschwendet“ werden - im Sinne vom Kind nicht rechtzeitig die Möglichkeiten bieten, seine Synapsenverbindungen auszubauen - ein Prozess, den man zu einem späteren Zeitpunkt nicht im gleichen Umfang nachholen kann. Ab welchem Zeitpunkt ist der richtige, um ein Instrument wieder aufzugeben, weil man merkt: hier wird kein Talent verschwendet, sondern es ist für Schüler und Lehrer eine Tortur. Oder ein Absitzen von Zeit. 

Oder sollte man trotzdem weitermachen, und einfach gemeinsam musizieren, ohne den Musikunterricht auf einen höheren musikalischen Zweck auszurichten und dafür das soziale Lernen, das Beisammensein und Spaß haben in den Vordergrund zu rücken? Vielleicht schenkt der Musikunterricht dem Kind einmal pro Woche ungeteilte Aufmerksamkeit. Vielleicht eine kritikfreie, angstfreie Zone. Und wenn ich vielleicht schreibe, meine ich: davon bin ich überzeugt. Musikunterricht kann beides: Talente entdecken, fördern und zukünftige Solisten formen und zweckfreies Wohlfühl-Miteinander sein. Welche Richtung eingeschlagen wird, liegt am Kind - und am Wunsch der Eltern. Als Lehrkraft gilt es, das immer wieder zu hinterfragen und mit den Eltern in einen Dialog zu treten. Leider habe ich so schon Schüler verloren, die ich sehr gern weiter unterrichtet hätte, weil ich gerne mit ihnen gemeinsam musiziert habe und die Nicht-Fortschritte nicht als Misserfolg wertete. Ich habe für mein eigenes Kind entschieden, dass es ausreicht, einmal die Woche mit strahlenden Augen zur Harfenstunde zu gehen - bei einer fabelhaften Kollegin, nicht bei mir selbst. Letztlich kann dies aber nur jede Familie für sich klären. 

Die Modalitäten

Nach dieser Stunde stand fest: O. und ich wollen uns gerne nächste Woche wiedersehen. Ihre Mutter fragte nervös, wie viel denn der Unterricht kostete. Es war klar, dass dieser nicht regulär bezahlt werden konnte und ich versprach, über eine Lösung nachzudenken. Es musste auch eine Harfe her, denn ohne Instrument zu Hause stellen sich obige Fragen nicht und es bleibt bei dem kurzen Kontakt mit dem Instrument einmal pro Woche. 

 

Ich brachte Mutter und Tochter noch zum Bus und erfuhr, dass sie zu Hause nur öffentliche Verkehrsmittel verwendeten. Sie lebten aber auch in einer Stadt mit knapp 800.000 Einwohnern, in Saporischschja. Wie sie den Namen aussprachen, das klang wie ein ganzes Gedicht. Nahe an der Grenze zu Russland, mit vielen Verwandten im Nachbarland, konnten sie selbstverständlich auch fließend russisch. Dennoch haben sie sich zur Flucht entschieden. Wiederum ergriff mich tiefstes Mitgefühl: während ich selbst tagelang damit zubrachte, mich mit meinem Mann auf einen Flurschrank zu einigen, mussten hier innerhalb der Familie tiefgreifende Entscheidungen getroffen werden. Der Mann durfte nicht ausreisen. Der Rest der Familie - Tante, Onkel, Großeltern von O. - sind in der Heimat geblieben.